Mittwoch, 14. März 2012

Hilfe, die LOHAS kommen

Müll sortieren, Biosprit tanken, Vegetarier werden - übertreiben es die Deutschen mit ihrem Ökofimmel? Aber sicher! Vor allem die Spezies der scheinbar modernen, naturbewussten Städter schadet der Umwelt mehr, als ihr lieb sein dürfte.

Jeden Dienstagnachmittag fährt ein weißlackierter Kleintransporter mit geöffneter Schiebetür durch unsere Straße; dann bellen die Hunde und die Kinder freuen sich: Hurra, der Mann mit dem komischen Gemüse ist wieder da. Im Handumdrehen tauscht er unsere leere Kiste von letzter Woche gegen eine volle neue aus. Dazu noch sechs Flaschen naturtrüben Apfelsaft, schon muss er weiter. Die Zeit drängt. Seine Tour ist noch lang. Der Gemüsemann gehört zu einem Wirtschaftszweig, der gefühlt inzwischen die halbe Stadt ernährt: die Biokistenbranche. Besonders Familien lassen sich ihre Wochenration an möglichst kerngesunden und biologisch vorteilhaften Lebensmitteln gerne nach Hause liefern. Das ist zwar teuer, aber es spart Zeit und Nerven. Man lernt die Pastinake, die Topinambur-Knolle und manche Salatsorte kennen, von der man früher glaubte, es handele sich um Unkraut oder Ziegenfutter.

Außerdem wird die gesamte Nachbarschaft darüber informiert, wie ernst man das Thema Nachhaltigkeit nimmt, ein wertvoller Prestige- und Distinktionsgewinn. Der Erfolg der Biokisten hängt eng mit dem Aufstieg einer ökosensiblen Konsumentenschicht zusammen, den sogenannten "Lohas". Das Wort ist ein englisches Akronym; es steht für "Lifestyle of Health and Sustainability". Gemeint sind Menschen, die gesteigerten Wert auf Gesundheit und Nachhaltigkeit legen, und gern bereit sind, dafür etwas mehr auszugeben.

"Lohas versöhnen, was bislang unvereinbar schien", hieß es in einem SPIEGEL-Artikel: "Grünkern und Gucci in Schönheit und Bekömmlichkeit vereint". Für Lohas ist Kaufen von großer Bedeutung. Sie glauben, dass ihre Konsumentscheidungen Folgen haben, die weit über den Augenblick hinausreichen. Lohas kaufen nur solche Produkte, die hohe ethische Standards erfüllen. Wegwerf- und Einwegprodukte werden gemieden. Am besten, Aldi würde öko und Kik wäre weg vom Fenster.

"Mit jeder Kaufentscheidung gebe ich quasi einen Wahlschein an der Kasse ab", sagt Daniel Dahm, Mitgründer des Webportals utopia.de: "Mit jeder Kaufentscheidung unterstütze ich eine bestimmte Wirtschaftsweise." Der Buchautor Fred Grimm ("Shopping hilft die Welt verbessern") fasst die Philosophie des kritischen Konsumismus so zusammen: "Ich kaufe, also bin ich der Bestimmer." Wer Berliner Lohas in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten möchte, sollte an einem ganz normalen Samstagvormittag die Bergmannstraße in Kreuzberg, den Winterfeldtmarkt in Schöneberg oder den Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg aufsuchen. Da kommen sie garantiert vorbei: geschmackssicher gekleidete Männer und Frauen in lässiger Haltung, nicht mehr ganz jung, aber mit dem Turnschuhmodell ihrer Jugend an den Füßen, ein sympathisches Völkchen, das der Sänger Rainald Grebe so beschreibt: "Die Menschen sehen alle gleich aus, irgendwie individuell." Dazu je zwei Kinder, die Friedrich und Emma oder Lovis-Emanuel und Lotte-Pippa heißen.

Der Einzelhandel hat sich voll auf die Wohlfühl-Kundschaft eingestellt. Im Prenzlauer Berg gibt es ein Babymodengeschäft namens "Wunschkind", ein Schuhgeschäft namens "Goldmarie", einen Hutladen namens "Glücksfilz" und das Eiscafé "Kauf dich glücklich". In Berlin fand auch der erste deutsche Carrotmob statt, organisiertes Einkaufen für Menschen, die damit die Welt verbessern wollen. Einige Dutzend Leute hatten sich über Facebook zum Großeinkauf in einem Berliner Supermarkt verabredet. Auf Kommando stürmten sie ins Geschäft und räumten die Regale mit den Bioprodukten leer. Die Idee des Carrotmobs stammt aus den USA. Es geht darum, den Einzelhandel zu animieren, möglichst viel Bio anzubieten und den ökologisch korrekten Weg einzuschlagen, wie ein Esel, dem eine Karotte vor die Nase gehalten wird.

Der Filialleiter des Berliner Supermarkts freute sich jedenfalls über die Kundschaft. Befürchtungen, die Carrotmobster würden das Tohuwabohu ausnutzen, um zu klauen, stellten sich als übertrieben heraus. Auch die Organisatoren waren zufrieden. Man habe dem Berliner Einzelhandel erfolgreich signalisiert, dass es sich lohne, auf ökologisch korrekte Produkte und Verkaufsbedingungen umzustellen, so ein Sprecher.

Manche Kritiker unterstellen den Lohas, es gehe ihnen weniger um die Umwelt als um sich selbst. Nicht Weltverbesserung stehe bei ihnen im Mittelpunkt, sondern Selbstverwöhnung. Das Ziel sei, sich moralisch abzuheben von der Unterklasse und ihrer fettreichen Nahrung und katastrophalen Energiebilanz, so der Kolumnist Robert Misik. "Die Verlierer müssen sich als bewusstlose Konsumenten maßregeln lassen, während die anderen sich das Moral-Image zusammenkonsumieren." Die Mitgliedschaft in der Lohas-Bewegung muss man sich in der Tat leisten können. Nicht jeder ist finanziell in der Lage, 92 Euro für einen Krauthobel aus unbehandeltem Buchen- und Fichtenholz von Manufactum auszugeben. Auch die handgenähten Maßschuhe sprengen bei einigen das Monatsbudget, so nachhaltig sie auch sein mögen. Wer die Welt durch Shopping verändern will, sollte über ein gewisses Mindesteinkommen verfügen oder wenigstens eine Erbschaft in Aussicht haben.

Ein Held der Lohas-Bewegung ist Prinz Charles. Schon vor 25 Jahren entdeckte der britische Thronfolger sein Herz für die Ökologie. Er unterhält eine Biofarm im Südwesten Englands und schreibt Bücher, die davon handeln, dass die Welt in Gefahr sei. "Sie verliert ihre Balance, und daran sind wir Menschen schuld", heißt es in seinem jüngsten Werk. Charles plädiert dafür, die "himmelschreiende Art der Milch- und Fleischviehhaltung in den Industriestaaten" zu beenden. Es gelte, hinter die "Fassade unseres Zeitalters des Luxus" zu blicken, was allerdings nicht heißt, dass jetzt jeder im Buckingham- Palast ein- und ausgehen darf.

Wer wissen will, wie sich Charles eine bessere Welt vorstellt, muss Poundbury besichtigen, ein 2000-Seelen-Quartier am Rande von Dorchester in der englischen Grafschaft Dorset. Vor zwanzig Jahren wurde es nach den Vorgaben des Prinzen errichtet. Poundbury sieht mit seinen Türmchen, Säulen und Butzenscheiben aus wie ein Märchendorf in Disneyland und ist absolut frei von Schmutz und Dreck. Harmonie ist erste Bürgerpflicht. Jeder Bewohner hat sich an die Vorgaben eines 20-seitigen Regelwerks zu halten, das der Prinz persönlich mit ausgearbeitet hat. Satellitenschüsseln sind demnach verboten, ebenso Fensterrahmen aus Plastik und vor der Haustür geparkte Fahrzeuge. Der Neigungswinkel der Dächer ist exakt normiert, ebenso der Mörtel, der aus neun Teilen gewaschenem Sand, zwei Teilen weißem Kalk und einem Teil Portland-Zement anzurühren ist. Ein Verwalter achtet darauf, dass niemand aus der Reihe tanzt. Charles kommt immer mal vorbei, um selbst nach dem Rechten zu sehen. Unangemeldet steht er dann bei den Leuten vor der Tür, fragt nach einer Tasse Tee mit Biohonig und zieht anstandslos seine Straßenschuhe aus, bevor er das Haus betritt.

Der "Zeit"-Reporter Henning Sußebach hat für idyllische Orte wie Poundbury und Prenzlauer Berg die schöne Bezeichnung "Bionade-Biedermeier" erfunden. Sußebach schreibt: "Man hat hier schnell das Gefühl, alles richtig zu machen." Dabei stimmt das gar nicht. Der Umweltökonom Michael Bilharz vom Umweltbundesamt hat die Ökobilanz von 24 typischen Lohas untersucht. Alle waren Mitglied in einer Naturschutzorganisation, kauften gerne beim Biomarkt ein, trennten penibel ihren Müll. Alle 24 schätzten sich als ökologisch verantwortungsbewusste Verbraucher ein, wenngleich nicht als Dogmatiker.

Bilharz fand heraus, dass die 24 Probanden alles andere als gute Vorbilder sind. Einige schnitten deutlich schlechter ab als Leute, die im Leben noch keinen Bioladen betreten hatten. Der aufwendige Lebensstil der Lohas machte all ihre Einsparungen zunichte. Ihre großen Wohnungen, ihre schönen Reisen und ihre Konsumgewohnheiten konnten durch Energiesparbirnen und Krauthobel aus Naturholz nicht ausgeglichen werden.

Dagegen vorbildlich: die arme, alleinstehende Rentnerin. Sie ist die wahre Ökoheldin, wenngleich nicht freiwillig. Sie lebt bescheiden auf anderthalb Zimmern, hat sich seit Jahren keine neuen Möbel angeschafft, besitzt natürlich kein eigenes Auto und nimmt höchstens mal an einer Kaffeefahrt teil. Zu mehr reicht das Geld nicht. Das mag sie schade finden. Aber für die Umwelt ist sie ein Segen, auch wenn sie von "Lohas" noch nie gehört hat.

Der Text ist ein Auszug aus dem neuen SPIEGEL-Buch "Ökofimmel. Wie wir versuchen, die Welt zu retten - und was wir damit anrichten."

Quelle: Spiegel Online

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