Samstag, 5. November 2011

Rasanter CO2-Anstieg schockiert

Die internationale Klimapolitik hat auf breiter Front versagt: Der CO2-Ausstoß ist von 2009 bis 2010 viel stärker gestiegen als prognostiziert. Das Ziel von maximal zwei Grad Erderwärmung wird zur Illusion - und das Interesse der Politiker an einem Kurswechsel versiegt, wie Spiegel Online in einem Hintergrundbericht schreibt.

Wenn der oberste deutsche Klimaforscher in diesen Tagen auf Politiker und Bürger trifft, beginnt er wieder ganz von vorn: Er hält ihnen dann einen Vortrag darüber, warum sich seine Zunft überhaupt so sicher ist, dass es den Klimawandel gibt. Er redet von dem "rein physikalischen" Effekt einer doppelten Treibhausgas-Konzentration in der Erdatmosphäre, der den Planeten alleine schon um ein Grad aufheizt. "Zusätzlich dazu die Wirkung des Wasserdampfs", rechnet ihnen der Vorsitzende des Deutschen Klimakonsortiums vor, "macht noch einmal mindestens ein Grad." Am nächsten Freitag ist es wieder soweit. Dann fährt Jochem Marotzke nach Berlin zu einem Vorbereitungstreffen des Bundesumweltministeriums für die nächste Weltklimakonferenz in Durban Ende November. Er klingt dann fast so, als hätten seine Zuhörer aus Politik und Ministerien noch nie von dem Phänomen der Erderwärmung gehört - geschweige denn, dass sich Tausende von ihnen in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu über einem Dutzend Weltklimakonferenzen getroffen hätten.

Denn der Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg macht sich derzeit keine Illusionen über den Stellenwert der Klimapolitik. "Das Interesse in Berlin und anderswo hat sich merklich abgekühlt", sagt der Atmosphärenforscher. Es gelte als ein Thema, das man nicht unmittelbar angehen müsse. "Weil auch die Bürger sich abwenden, besteht für die Politiker folglich kein großer Handlungsdruck. Doch die herrschende Gleichgültigkeit steht im krassen Gegensatz zu den düsteren Fakten: Nach neuesten Berechnungen des US-Energieministeriums steigt der CO2-Ausstieg rasant: 1900 Millionen Tonnen mehr Treibhausgas quoll im vergangenen Jahr aus Schornsteinen, Auspuffen oder Ackerflächen.

"Wir liegen damit oberhalb unserer Szenarien, mit denen wir die weitere Erwärmung der Erde berechnen", warnt Marotzke. "Ich kann nur hoffen, dass angesichts dieser neuen Zahlen das Gefühl der Müdigkeit verfliegt. Eines belegen die neuen Zahlen eindrücklich: Die internationale Klimapolitik hat bisher auf breiter Front versagt. 1992, beim ersten "Erdgipfel" von Rio des Janeiro, lag die Konzentration des Treibhausgases CO2 in der Atmosphäre bei 360 parts per million (ppm). In den zwanzig Jahren seither ist sie bereits auf 390 ppm geklettert - ein Ende des Anstiegs ist nicht in Sicht. Jahr für Jahr verhandeln Vertreter aus fast 200 Staaten darüber, welche Länder ihren Ausstoß an Treibhausgasen wie stark reduzieren müssen. Es sind Mega-Events - die Ergebnisse aber bleiben mager. Und die Erwartungen an die 17. Weltklimakonferenz in Durban sind so niedrig wie kaum zuvor.

Zudem könnte der bevorstehende Gipfel trotz Rekord-Emissionen sogar einen weiteren Rückschlag bringen: Eigentlich sollte bis 2012 geregelt sein, in welchem Umfang die klassischen Industrieländer ihre Emissionen in den kommenden Jahren reduzieren, wenn die erste Periode des Kyoto-Vertrags endet. Doch vor allem Russland, Kanada und Japan weigern sich, neue Verpflichtungen einzugehen, solange China (siehe auch Bild von Nordchinas Industrie) - der weltgrößte Verursacher von Treibhausgasen - und andere Schwellenländer nicht mit von der Partie sind. Durban könnte also ein Sargnagel für das Kyoto-Protokoll werden und damit für das einzige verbindliche Regelwerk im Klimaschutz.

Zwar verlangen die USA und andere Industrienationen, dass China sich ebenfalls international dazu verpflichten muss, seine Emissionen zu mindern. Das weist die Regierung in Peking aber mit dem Argument zurück, China sei noch immer ein Entwicklungsland und der Großteil des zusätzlichen Kohlendioxids in der Atmosphäre sei von den klassischen Industrieländern verursacht worden. Und auch die USA treten von jeher massiv als Vetomacht gegen einen zu ambitionierten Klimaschutz auf. Zwar hat die Clinton-Regierung 1997 im japanischen Kyoto einem Vertrag zugestimmt, demzufolge die Industrienationen ihren Ausstoß an Treibhausgasen bis zur Periode 2008-2012 um fünf Prozent gegenüber 1990 reduzieren müssen. Doch kaum war der damalige US-Vizepräsident Al Gore wieder zurück in Washington, zerfetzten die Republikaner auf dem Capitol Hill das Dokument. Der große Einfluss der Öl- und Autoindustrie auf die US-Politik führt bis heute dazu, dass die USA sich einem effektiven internationalen Klimavertrag verweigern. Berater von US-Präsident Obama konstatieren inzwischen, dass "saubere Energie in Washington ein schmutziges Wort geworden ist".

Was die Modelle des Uno-Weltklimarats IPCC betrifft, haben die beschleunigten Emissionswerte zunächst einmal keine Auswirkungen. "Es ist schon so viel Kohlendioxid in der Atmosphäre, dass unsere Abschätzung des Klimawandels für die nächsten 20 Jahre davon unberührt bleibt", erklärt Marotzke. Doch wenn es mit dem Anstieg weitergehe, dann müssten die Modelle des IPCC angepasst werden. "Insbesondere müssen wir dann neu berechnen, wie sich die Temperaturen ab 2035 verändern werden", sagt der Hamburger Klimaforscher.

Ein Ziel ist den Wissenschaftlern heilig: Ab 2020 dürfe der Ausstoß an Treibhausgasen nicht weiter steigen. "Ansonsten ist es praktisch ausgeschlossen, dass wir das Zwei-Grad-Ziel bis zum Ende des Jahrhunderts einhalten werden", erklärt der Meteorologe. Eine Zahl ist dabei entscheidend: 1000 Gigatonnen. Das ist die Gesamtsumme an Kohlenstoff, die die Menschheit noch produzieren darf, um nicht über das Zwei-Grad-Ziel hinauszuschießen. Wenn die Zunahme der Weltmitteltemperatur diesen Wert überschreitet, dann sind drastische Klimaveränderungen und langfristig unumkehrbare Prozesse wie das komplette Abschmelzen der Gletscher auf Grönland kaum noch aufzuhalten.

"Wann wir diese 1000 Gigatonnen freisetzen, ist aus Sicht der Erdatmosphäre eigentlich egal", sagt Marotzke. "Doch je mehr wir jetzt von diesem Kuchen wegknabbern, desto stärker müssen wir später einsparen." Was den Max-Planck-Direktor so pessimistisch macht, ist die deprimierende Einsicht, dass jeglicher Erfolg von Einsparmaßnahmen in den Industrieländern vom Wirtschaftsboom der Schwellenländer wie Indien und China praktisch über Nacht aufgefressen wird. "Damit sind wir beim CO2-Ausstoß auf einer Entwicklungsbahn, die das Zwei-Grad-Ziel immer mehr ins Illusorische rückt", stöhnt Marotzke. Bis zum Jahre 2100, diese Folie wird er nächste Woche in Berlin ganz sicher den Ministeriellen zeigen, müssen die Emissionen nur noch zehn Prozent dessen betragen, was im Jahre 2000 ausgestoßen wurde.

Die Bereitschaft der Politik, die Realitäten anzuerkennen und zu handeln, schätzt Klimatologe Marotzke aber als zunehmend gering ein. Und er hat dafür sogar ein gewisses Verständnis: "Kein Staatsführer wird eigenständig teure Einsparmaßnahmen anordnen, wenn er sieht, dass die anderen nicht mitmachen", sagt Marotzke. Denn wer sei schon bereit, seine Wirtschaft zu schädigen? "In der Summe jedoch wirkt sich diese Zurückhaltung fatal aus." Dabei steht für Marotzke fest: "Die physikalischen Gesetze funktionieren unbarmherzig weiter, egal was der Mensch tut oder lässt."

Quelle: Spiegel Online

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